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Take my breath away

Mein Vater hat nach dem Zweiten Weltkrieg aufgehört zu reden. Als Kind wusste ich das natürlich nicht, denn als Kind hatte ich keine Ahnung, wann der Zweite Weltkrieg zu Ende war. Ich dachte, mein Vater hätte nie geredet. Soweit ich es beurteilen konnte, war er schon in einem Fernsehsessel sitzend zur Welt gekommen, die Andeutung eines freundlichen Lächelns auf dem Gesicht und eine Dose Bier in der großen Hand. Es ist wie in »Endstation Sehnsucht«: Er ist eine Art Stanley Kowalski, nur ohne das Böse. Er brüllt meiner Mutter Stella! entgegen, aber lediglich durch seinen unbeweglichen Blick.

Das schien ihr zu reichen, wenn auch ich nicht zufrieden damit war. Erst nachdem ich Teddy geheiratet hatte, gestand meine Mutter mir eines Tages in Commack, während wir ihre Wäsche aufhängten, wann mein Vater aufgehört hatte zu sprechen.

»Tja, seit unserer ersten Verabredung hat er nie mehr ein vollständiges Gespräch mit mir geführt«, sagte sie und befestigte sein Hemd an den Schultern an der Leine.

Man konnte neben ihrer Wäscheleine im Hinterhof stehen und in jeder Richtung auf fünf oder sechs weitere Hinterhöfe blicken. So ist das in Commack. So ist das in ganz Long Island, wie ich es kenne. Flache Reihenhäuser mit Müttern in den Hinterhöfen. Über Meilen reihen sich Ladenzeilen, Einkaufszentren, Ersatzteilläden und Autohändler aneinander. In der Luft liegt ein leichter Salzgeruch.

»Ma«, habe ich sie gefragt, »wie hast du das ausgehalten? Wie konntest du ihn heiraten?«

Meine Mutter sah mich aus ihren scharfen Augen an, und in ihrem Blick konnte ich Wut auf mich erkennen, nicht auf meinen Vater. »Jetzt hör mir mal zu, Fräuleinchen, wenn du deinen frischgebackenen Ehemann in einem Jahr so gut kennst wie ich deinen Vater nach diesem ersten Treffen, wäre ich sehr überrascht.« Sie deutete mit einer hölzernen Wäscheklammer auf mich. »Man muss nicht die ganze Zeit reden, um jemandem zu sagen, wie sehr man ihn liebt.«

Das war vor vier Jahren, und ich weiß noch genau, dass ich unter anderem mit einem höhnischen Lächeln auf diese Aussage meiner Mutter reagierte. Ich ließ es sie durch die Reihen feuchter Wäsche sehen; ich dachte, ich wüsste, wo es langgeht! Jetzt, wo Teddy bereits seit drei Wochen fort ist, sehe ich natürlich die Wahrheit in ihren Worten. Während unserer reichlich kurzen Ehe redete Teddy ohne Unterlass, meistens jedoch über Teddy. An jenem Tag, als ich mit meiner Mutter Wäsche aufhängte, glaubte ich noch, dass diese Ehe im Hause Disney geschlossen worden sei. Ich war eben neunmalklug, frisch ausgestattet mit dem falschen Gefühl von Weisheit, das einem das Schreiten durch den Mittelgang einer Kirche verleiht.

»Ma«, hatte ich gesagt und dabei ein langes weißes Laken über die Leine geworfen, um mich von ihr zu distanzieren, »wir Sozialpädagogen reden von verbalem Missbrauch, wenn jemand Wörter wie Waffen einsetzt. Wenn jemand seit über vierzig Jahren nicht mit dir spricht, kann man das durchaus nichtverbalen Missbrauch nennen.«

Meine Mutter riss das Laken von der Leine und ließ es, feucht, wie es war, zu Boden fallen. Ihr Gesichtsausdruck war versteinert, und sie war alles andere als amüsiert. »Sprich mir gegenüber nie wieder so über deinen Vater«, sagte sie, »nie wieder.«

Ich war immerhin so klug, darauf nichts zu entgegnen. Mir war klar, wen meine Mutter zuerst ins Rettungsboot ziehen würde, sollte ihre Familie mit der Titanic untergehen.

An diesem Morgen ist das Wohnzimmer meiner Mutter lärmerfüllt, obwohl nur mein Vater und ich darin sitzen. Nicht wir sind es, die den Lärm verursachen, sondern der Fernseher. Ein sonntägliches Sportprogramm. Die Zusammenfassung eines Spiels der Yankees gegen die Red Sox. Meine Mutter ist noch in der Kirche, und der Sprecher berichtet über den Lärm der Menge hinweg aus dem Privatleben irgendeines Werfers. Ich habe noch nicht ein Wort mit meinem Vater gewechselt über seine diversen Besuche bei Urologen, Onkologen oder auch unserem Hausarzt, Dr. Nash, der das Blut im Urin überhaupt erst entdeckt hat. Nichts an seinem distanzierten Verhalten veranlasst mich zu glauben, er würde mit mir über seine Krankheit reden, selbst wenn ich heute nur deswegen gekommen bin.

Ich habe keine Ahnung von Baseball, und es ist mir unangenehm, so neben meinem Vater zu sitzen. Das Lärmen der Menge erinnert mich an den schlechten Sex mit Teddy. Der genoppte Bezug auf dem Sofa meiner Mutter scheuert gegen meine Kniekehlen. Wäre doch ihr Sofa nur nicht so steif, so kratzig, so – fünfzigerjahremäßig. Warum haben die Leute in den Fünfzigern nicht gern bequem gesessen? Fast hätte ich meinen Vater danach gefragt, dessen Blick kurz vom Bildschirm zu mir gewandert ist, doch dann hören wir das Quietschen der Hintertür und atmen beide erleichtert auf.

»Hal--chen!«, trällert meine Mutter. »Bin von der nicht enden wollenden Messe zurück!«

»Hi, Ma!«, rufe ich und versuche einen Werbespot zu übertönen. Ich stehe auf, um sie zu begrüßen, doch sie umrundet bereits auf ihren klappernden, hohen Absätzen die Küchenecke und kommt in ihrem guten marineblauen Sonntagsmantel, den sie vermutlich bereits zu meiner Taufe getragen hat, ins Wohnzimmer.

»Schon wieder war dieser verdammte Jesuitenpater da«, murmelt sie und wirft ihr Handtäschchen neben mir aufs Sofa. Angesichts ihres Fluchs läuft mir ein Schauer den Rücken hinunter. »Die werden doch im Jesuitenkolleg total verzogen«, bemerkt sie bitter, »da wird ihnen jeder Tee und jeder Brandy gebracht und sogar noch der Hintern abgewischt.«

Mein Vater hebt eine Augenbraue, mehr aus Erheiterung denn aus Missbilligung. Stella!, sagt dieser Blick.

»Heute hast du nichts verpasst, Pulkowski«, erklärt meine Mutter ihm, während sie den Mantel aufknöpft, und wieder hebt mein Vater die Augenbraue. Er ist seit zweiunddreißig Jahren nicht mehr in die Messe gegangen, seit meiner bereits erwähnten Taufe nicht mehr. Und trotzdem lässt meine Mutter diesen Kommentar jeden Sonntag vom Stapel.

»Die Predigt hättest du hören sollen!« Sie schlägt sich gegen die Stirn. »Darüber, wie schwer doch das Leben eines Mannes ist. Immer hat er vom Leben der Männer geredet, was die Männer doch für ein Kreuz zu tragen hätten! Als ob wir Frauen die ganze Woche nur auf der faulen Haut liegen und darauf warten würden, dass …«

»Helen«, sagt mein Vater und lächelt sie an. Vielleicht ist es auch ein Zusammenzucken. Erschrocken hält meine Mutter inne, fast, als wache sie gerade auf. Sie zieht den Mantel aus, streicht den Rock glatt und schenkt mir ein würdevolles Lächeln ihrer roten Lippen.

»Hallo Rosie«, sagt sie. »Dann mache ich dir und Pulkowski mal was zu essen.«

Mit wehendem Rock und klappernden Absätzen verschwindet meine Mutter in der Küche. Ein bisschen verblüfft sehen wir ihr nach. Unsere Blicke kehren zum Fernseher zurück. Die Geräuschkulisse der Baseballfans erinnert an einen im Hintergrund laufenden Staubsauger. Ich lausche und fühle mich an Eleanor erinnert, die ihren Staubsauger auf dem Teppich des Zahnarztes vor und zurück schiebt, vor und zurück.

»Dad«, sage ich, »wie geht es dir?«

Ich starre weiter in den Fernseher. Ein Spieler auf der dritten Base fängt den Ball und stürzt sich auf den Läufer, der auf ihn zukommt. Er plumpst samt Ball auf ihn und drückt ihn platt wie eine Zeichentrickmaus. Ich höre, wie mein Vater in seinem Sessel raschelt. Ich höre, wie die Kissen seufzen. Ich werfe ihm einen Blick zu. »Gut«, sagt er zu dem plattgedrückten Baseballspieler. Und dann: »Ich schau besser mal nach dem Essen deiner Mutter.«

Er erhebt sich, als hätte eine stumme Klingel ihn gerufen. Auf seinem Weg an mir vorbei beugt er sich von seiner stattlichen Höhe zu mir herab und drückt meine Schulter. Sehr zart, sehr flüchtig. Seine Hand ist schwer und warm, von den Fingern stehen einzelne, drahtige Härchen ab. Ich sehe an seiner khakibraunen Hose hoch, an dem kurzärmeligen Hemd, der Fernsehbrille. Er ist ein Riese, aber er hat mir nie die Hand auf die Schulter gelegt. Doch ich brauche mehr als dieses Schulterdrücken. Ich brauche das Gespräch mit ihm.

Meine Mutter hat den Tisch mit ihrem schrecklichen Fünfzigerjahregeschirr gedeckt, das keine andere Mutter je besitzen würde.

»Du bleibst doch zum Mittagessen, Rosie.«

»Heute kann ich nicht«, sage ich ihr, schwebe an dem gedeckten Tisch vorbei und bewege mich Richtung Hintertür.

»Was meinst du damit?«, fragt meine Mutter mit ihrer besorgtesten Stimme. Sie steht vor dem Herd, die eine Hand in die Hüfte gestemmt, während die andere drohend eine Suppenkelle umklammert. Auf ihrer Wange ist ein Spritzer Tomatensoße.

»Ich fahre heim und mache mir mein eigenes Mittagessen«, antworte ich ihr. »Ich will ja nicht wie diese Jesuiten enden.«

»Ich verpasse dir eine Beule«, warnt sie mich und fuchtelt mit der Kelle. Doch ich bin bereits fort, durch die Fliegengittertür und auf dem Weg zu meinem Wagen. Er hätte mit mir reden sollen. Ich bin extra den weiten Weg gefahren.

Langsam fahre ich durch die Stadt meiner Kindheit. Ich stehe vor einer roten Ampel beim Commack-Park und starre auf die Schaukeln, auf denen meine Mutter mich anzuschubsen pflegte. Inzwischen sind die Metallstangen in leuchtendem Rot und Gelb gestrichen und erinnern mich an Inga und ihre Kartons voller Vitamin- und Mineralpräparate, die in den gleichen Farben gehalten sind und die sie im Kofferraum ihres Autos umherkutschiert. Sie hat mit dem Verkauf von Almost-Keksen Karriere gemacht, einer widerlichen Mischung aus Algen, Körnern und Melasse, erfunden von einem vitaminbesessenen Hersteller aus Kalifornien. Inga steht für das komplette Sortiment »biologisch-dynamischer Alternativen«, wie sie die krümeligen Snacks nennt, mit denen sie in Fitness-Clubs, Naturkostläden und sogar in 7-Eleven-Märkten im gesamten Nordosten des Landes hausieren geht. Sie verkauft Almost-Bonbons und Almost-Chips, verpackt in glänzendes Rot und Gelb. Insgeheim schreibe ich Ingas Erfolg beim Verscherbeln dieses Zeugs der Tatsache zu, dass sie blond, dünn und weiblich ist. Ich selbst war nie versucht, mir einen Vorrat an Almost-Produkten zuzulegen, und wenn mir Inga in der Vergangenheit einen Riegel von diesem und eine Tüte von jenem angeboten hat, habe ich immer höflich abgelehnt. Ich habe reichlich Erfahrung damit, annähernd das zu bekommen, was ich will. Und wenn es ums Essen geht, mache ich keine Kompromisse. Trotzdem muss es Leute geben, die sich das reinpfeifen, was Inga verkauft. Vielleicht führt Teddy gerade einen bläulichen Almost-Chips zu seinem rosa Zahnfleisch und kaut zärtlich darauf herum, während er Inga beim Unkrautrupfen zuschaut.

Zuhause blinkt die rote Anzeige des Anrufbeantworters verführerisch in Teddys verlassenem Arbeitszimmer. Ich rede mir ein, darauf eine Nachricht von meinem Vater vorzufinden, in der er mir mitteilt, ich solle mir keine Sorgen machen, es gehe ihm gut, das Blut im Urin habe nichts zu bedeuten. Denk dran, Rosie, wird er am Ende noch hinzufügen, man muss nicht die ganze Zeit reden, um jemandem zu sagen, wie sehr man ihn liebt. Als ich zum Anrufbeantworter komme, versetzt eine leuchtende 3 meinen Magen in Aufruhr. Drei Anrufe, während ich weg war! Mein Finger drückt die PLAY-Taste.

Hi, Roseanna. Wie geht’s Ihnen? Hier ist Ham. Oder Mickey, wie Sie wollen. Ähm … mit Milton ist alles in Ordnung. Ich … äh … rufe wegen dieser anderen Sache an, über die wir diese Woche schon in meinem Büro geredet haben. Bitte rufen Sie mich doch zurück, wenn Sie Zeit haben.

PIIIEP!

Ja, Roseanna. [Es ist Teddy!] Hör zu, äh … Inga hat mir gegenüber erwähnt, dass du diese Woche vorbeigekommen bist. Bei ihr. Wolltest wohl mich sehen. Bitte komm in Zukunft nicht mehr, äh … unangemeldet zu ihr. Das regt sie zu sehr auf, und es ist auch nicht fair ihr gegenüber. Wenn du was von mir willst, ruf bitte vorher an, dann können wir etwas ausmachen.

Klick! PIIIEP!

Miss Plow? Miss Plow? Hier ist Milton! Milton Beyer, ja? Ihr bester Arbeiter im SaveWay, ja? Ich bin ein sehr guter Arbeiter, Miss Plow. Aber jetzt bin ich nicht bei der Arbeit. Ich bin zu Hause … Aber meine Mutter ist im SaveWay und kauft etwas zu essen ein! Ist das nicht lustig? Ich rufe an, weil ich Ihnen etwas sagen muss. Warten Sie mal kurz.

Ich warte. Aus dem Hörer dringt ein Poltern, gefolgt von schwerem, ängstlichem Atmen.

Take my breath AWAAAAY! AAY! AAY! AAY!

Der Gesang bricht gnädigerweise ab. Mehr Poltern. Mehr Schnaufen.

Jetzt ist es doch in Ordnung, Ihnen zu sagen, dass ich Sie liebe, oder? Weil ich nicht an der Arbeit bin? Wissen Sie, dass ich Ihre Nummer im Telefonbuch nachgeschaut habe? Genau wie Sie es mir gezeigt haben! Und wissen Sie was? Das ist echt lustig! In den Gelben Seiten gibt’s eine Menge Plows. Für Schnee! Snow plows – Schneepflüge! Ist das nicht lustig? Ich liebe Sie, Miss Plow … Ich …

PIIIEP!

Ich drücke die STOP-Taste und sinke dann in Teddys Ledersessel. Es ist einer von diesen überdimensionierten Chefsesseln, die ich immer verabscheut habe, ein Möbelstück für das mickrige Ego seelisch Verkümmerter, und abgezahlt haben wir ihn auch noch nicht ganz. Ich lege meine Wange auf das braune Polster, das schwach nach ihm riecht: Deo und Moschus. Ich versuche immer noch, die schauerliche Imitation von Jessica Simpson aus dem Kopf zu bekommen, als jemand die Klingel betätigt.

Meine Klingel.

Ich mache die Tür auf, und Inga steht vor mir.

Mir bleibt die Luft weg.

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